- Schütz und die evangelische Kirchenmusik
- Schütz und die evangelische KirchenmusikDer vermutlich am 14. Oktober 1585 in Köstritz bei Gera geborene Heinrich Schütz zog bereits mit 13 Jahren die Aufmerksamkeit des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel auf sich. Dieser bot den Eltern an, den Knaben in Kassel im Collegium Mauritianum, welches eigentlich den Angehörigen des Hofes vorbehalten war, ausbilden zu lassen.Am Kasseler Hof wurde neben traditioneller, kontrapunktischer Kirchenmusik auch die moderne, stärker wortbezogene italienische Musik gepflegt. Nach einer vielseitigen Ausbildung, zu der auch das Erlernen der lateinischen, griechischen, französischen und wohl auch der italienischen Sprache gehörte, wurde Schütz am 27. September 1608 in Marburg an der juristischen Fakultät immatrikuliert. Bereits im folgenden Jahr unterbrach er auf Bitten von Landgraf Moritz sein offenbar vielversprechend verlaufendes Studium, um sich bei Giovanni Gabrieli in Venedig musikalisch weiterzubilden. Schon bald nach seiner Ankunft in Venedig musste Schütz feststellen, dass die Anforderungen der Gabrieli-Schule enorm hoch waren; daher gab er seinen Plan, nebenbei seine juristischen Studien fortzusetzen, auf. Auf Betreiben Gabrielis, der Schütz damit indirekt große Fortschritte attestierte, wurde das Stipendium um ein Jahr verlängert. Eine weitere Verlängerung erwirkte Schütz durch die Widmung seines 1611 erschienenen op. 1, einer Sammlung mit 19 italienischen Madrigalen, an den Landgrafen.Es verwundert sicherlich auf den ersten Blick, dass der vor allem als Kirchenmusiker berühmte Gabrieli seine Schüler dazu anhielt, zunächst mit Madrigalsammlungen an die Öffentlichkeit zu treten. Diese Gattung aber ermöglichte sehr viel besser das Erlernen der modernen Kompositionstechniken als die liturgisch gebundenen Werke. Insbesondere um die Vermittlung adäquater Textumsetzung bei gleichzeitiger Beachtung der kontrapunktischen Regeln scheint es Gabrieli hierbei gegangen zu sein. Neben den musikalischen Umsetzungen von Einzelworten galt es, die Affekte fantasievoll musikalisch darzustellen, wobei dann auch manche Kompositionsregel durchbrochen werden durfte. Verglichen mit den Madrigalsammlungen anderer Gabrieli-Schüler erweisen sich die fünfstimmigen Madrigale von Schütz als eher konventionell, wobei allerdings sein handwerkliches Können nicht zu übersehen ist. Extreme harmonische Kühnheiten, wie sie bei Carlo Gesualdo oder Claudio Monteverdi zu finden sind, sucht man in Schützens op. 1 vergeblich.Nach dem Tode seines Lehrers kehrte Schütz 1613 wieder nach Deutschland zurück, wo er zunächst, da ihm kein musikalisches Amt offenstand, seine Jurastudien fortsetzte, bis ihn Landgraf Moritz in Kassel als zweiten Hoforganisten anstellte.Im gleichen Jahr kamen erste Kontakte mit dem prunkvollen Dresdner Hof zustande, an dem für kurze Zeit der bereits anerkannte Michael Praetorius wirkte. Die Zusammenarbeit mit diesem scheint für die musikalische Entwicklung des jungen Schütz wichtig gewesen zu sein. Zusammen mit Praetorius war Schütz unter anderem bei der Festmusik anlässlich der Taufe von Kurfürst Johann Georgs I. Sohn, August, beteiligt.In den nächsten beiden Jahren versuchte der Dresdner Hof wiederholt und — letztlich aufgrund der politischen Übermacht des sächsischen Kurfürsten — erfolgreich, Schütz von Kassel abzuwerben. Es dürfte wohl auf den Einfluss von Praetorius zurückzuführen sein, dass Schütz in den ersten Jahren in Deutschland vor allem vielchörige Choralwerke komponierte, wie die beiden Choralkonzerte »Christ ist erstanden« und »Veni Sancte Spiritus«.. Die Fixierung auf den vorgegebenen Choral schränkte jedoch die kompositorischen Freiheiten im Hinblick auf die musikalische Umsetzung des Textes stark ein, sodass dieser traditionelle Weg ihm letztlich wenig zukunftsträchtig erscheinen musste. Dem Vorbild von Giovanni Gabrieli verpflichtet sind dagegen die »Psalmen Davids«, die Schütz 1619 herausgab und welche auf den Tag seiner Hochzeit mit Magdalene Wildeck datiert sind; bei der Vertonung des 111. Psalms griff er sogar auf ein achtstimmiges Concerto seines Lehrers zurück. Derartige Übernahmen von Kompositionen anderer Meister dienten dazu, diesen eine Ehre zu erweisen, und waren nicht etwa Ausdruck von Fantasielosigkeit. Vielleicht noch stärker italienisch geprägt sind einige der in den »Cantiones sacrae« enthaltenen Motetten, die in Deutschland ohne Vorbild waren. Ähnlich frei von Zwängen der Tradition wird Schütz wohl bei der Vertonung der Oper »Dafne« im Jahre 1627 verfahren sein; leider ist uns jedoch die Musik hierzu nicht überliefert. Möglicherweise in direktem Zusammenhang mit der »Dafne« stand das Gesuch um eine weitere Italienreise, durch die Schütz seine Kenntnisse im neuen Stil der Musik aufbessern wollte. Erst nach wiederholten Bitten wurde ihm 1628 die Reise bewilligt. Obwohl er schriftlichen Zeugnissen zufolge von den Neuerungen der Musik begeistert war, die sich vorwiegend auf dem Gebiet der Monodie vollzogen hatten, ist nur wenig über seine persönlichen Kontakte in Venedig bekannt. Sicher ist lediglich, dass er — möglicherweise schon vor Antritt seiner Reise — Werke Monteverdis studiert hat, da er zwei Canzonetten von ihm mit deutschem Text umgearbeitet hat. Außerdem übernahm er im 1647 erschienenen zweiten Teil der »Symphoniae sacrae« zwei Duette aus Monteverdis »Scherzi musicali« für sein Konzert »Es steh Gott auf«. Anregungen von Seiten des in Bergamo ansässigen Alessandro Grandi lassen sich im ersten Band der »Symphoniae sacrae«, die 1629 noch in Venedig gedruckt wurden und die zwanzig Konzerte für maximal drei Vokalstimmen und obligate Instrumente enthalten, aufspüren. Im dritten Buch (1650) der »Symphoniae sacrae« hat Schütz sogar eine Komposition Grandis übernommen. Auch hier wissen wir allerdings nicht, ob es zu einem persönlichen Kontakt kam.Nach Dresden zurückgekehrt, versuchte Schütz zunächst, die dortige Hofmusik neu zu organisieren. Allerdings verschlechterte sich durch die in Sachsen grassierende Pest und durch das militärische Eingreifen Sachsens in den Dreißigjährigen Krieg die allgemeine soziale Lage beträchtlich, was auch für die Hofkapelle negative Auswirkungen hatte. Da traf es sich gut, dass 1633 der dänische Kronprinz Christian Schützens Mitwirkung bei den Hochzeitsfeierlichkeiten seiner Tochter erbat. Gegen Ende des Jahres wurde Schütz in Kopenhagen zum königlichen Kapellmeister ernannt. Bis zu seiner Rückkehr nach Dresden im Frühjahr 1635 allerdings hatte sich die kriegsbedingte Situation eher verschärft, da die Truppen des sächsischen Kurfürsten nun in Allianz mit dem römischen Kaiser gegen die Schweden zu Felde zogen, was zu schlimmen Verwüstungen im Lande führte. Dieser Notsituation trugen die 1636 und 1639 als op. 8 und op. 9 veröffentlichten »Kleinen geistlichen Konzerte« insofern Rechnung, als auf obligate Instrumente fast gänzlich verzichtet wurde und die darin enthaltenen Überarbeitungen früherer Werke bewusst auf eine reduzierte Besetzung zielten. 1642 reiste Schütz wiederum auf Einladung König Christians IV. von Dänemark nach Kopenhagen, wo er den zweiten Teil der »Symphoniae sacrae« vorbereitete. In diesem Band fasste Schütz noch einmal seine Erfahrungen mit der modernen italienischen Musik zusammen. Die virtuosen Passagen der solistischen Vokalstimmen legen von der gelungenen Adaption der neuen Techniken ebenso beredt Zeugnis ab wie die flexible, die jeweiligen Besonderheiten berücksichtigende Behandlung der Instrumente.Auf der Rückreise von Dänemark verweilte Schütz längere Zeit in Braunschweig, wo er als Kapellmeister von Haus aus (das heißt ohne Anwesenheitspflicht) an der Wolfenbütteler Hofkapelle tätig wurde. Von 1655 datiert die Bestallungsurkunde, nach der Schütz dafür Sorge zu tragen hatte, dass er »unsere Fürstl. Capellen allhier mit guten düchtigen Musikanten die so woll in Vocali als Instrumentali Musica woll abgerichtet sein, darneben auch und in Sonderhet mit guten Capellknaben und Bassisten allemal woll versehen...«1648 erschien als opus 11 die »Geistliche Chormusik«, eine Sammlung, die ganz bewusst im »klassischen«, kontrapunktischen Stil gehalten ist. Schütz deswegen als Bewahrer des Kontrapunkts zu bezeichnen, scheint jedoch verfehlt. Vielmehr erweist er sich als ein Verfechter des Stildualismus, dem alle stilistischen Mittel zu Gebote standen. Seine Stellung zwischen den Polen der Prima und Seconda pratica zeigt sich insbesondere auch in seinem dritten Band der »Symphoniae sacrae« (1650), in dem er, anknüpfend an seine »Psalmen Davids«, mehrchörige Werke vorlegte, die nun aber, gleichsam als Synthese beider Stilarten, auch virtuos geführte Solostimmen enthalten. Eine derartige Verknüpfung der bis dahin erarbeiteten unterschiedlichsten kompositorischen Techniken und Mittel blieb allerdings ohne Nachahmer. Die enormen ökonomischen Probleme der Hofkapelle und die Ahnung, musikalisch inzwischen nicht mehr ganz en vogue zu sein, trugen gewiss mit dazu bei, dass Schütz sich zu Beginn des Jahres 1651 von seinem Amt entbinden lassen wollte. Doch trotz wiederholter Ersuche um Entlassung gab der Kurfürst nicht nach. Erst mit dessen Tod am 8. Oktober 1656 wurde Schütz vom Dienst befreit, fungierte jedoch noch weiterhin als Oberkapellmeister ohne regelmäßige Anwesenheitspflicht.Noch bis kurz vor seinem Tod am 6. November 1672 konnte Schütz, der seit 1651 in Weißenfels lebte, gelegentliche Reisen nach Dresden, Wolfenbüttel, Leipzig und Zeitz unternehmen, um dort für musikalische Belange zur Verfügung zu stehen. Zudem schuf er noch zahlreiche Werke, wie die »Historia, Der Freuden- und Gnadenreichen Geburth Gottes und Marien Sohnes«, drei Passionen, ein deutsches Magnificat und diverse Psalmvertonungen.Die Übernahme der neuen Techniken der italienischen Musik in deutsche Traditionszusammenhänge muss als ein wesentliches Merkmal der Schützschen Kunst angesehen werden. Schütz war weder Traditionalist noch Revolutionär, sondern er versuchte - immer im Hinblick auf eine adäquate Umsetzung des Wortes in Musik - seinen eigenen musikalischen Weg. Seine große Kunst, Sinn- und Affektgehalt eines Textes musikalisch auszudrücken, macht ihn zum Inbegriff des »Musicus poeticus« im Sinne der barocken, vor allem der deutschen protestantischen Musikanschauung.Dr. Reinmar EmansEuropäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.
Universal-Lexikon. 2012.